6
Der Fensterkuss
Ein letzter Blick aufs Internat, danach fuhren Pule und ich nach Kaabong. In Zukunft musste ich nicht mehr ihre Hausaufgaben machen, unsere gemeinsame Schulzeit war vorbei. Ich wusste schon jetzt, dass ich ihr Lachen und ihre Wärme vermissen würde.
Die Landschaft in diesem nördlichen Teil von Uganda war sehr schön, wenn nicht gerade Dürre herrschte. Als ich mich meinem zweiten Heimatort näherte, ragten aus der Savanne zwischen dornigen Sträuchern und einzelnen Baumgruppen ungewöhnlich geformte Hügel und Felsen heraus. Von Weitem sahen einige davon aus wie Tier- oder Menschenfiguren, denen ich verschiedene Namen gegeben hatte. Mein Lieblingsfelsen hieß Ekone, »mein Freund«. Er erschien mir wie eine große, auf dem Boden liegende Antilope. Nach der Schule war ich oft auf den Felsen geklettert, um von dort aus in die weite Umgebung zu blicken und von meiner Zukunft zu träumen.
Ja, meine Zukunft. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie mein weiteres Leben aussehen sollte. Besser gesagt: Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie ich meinen Eltern erklären sollte, dass ich weiter zur Schule gehen wollte. Als ich dann wieder zu Hause war, trug ich meinen Wunsch ruhig und sachlich vor. Zuvor hatte ich mich mit allen möglichen Argumenten gewappnet, wie ich besonders Tata überzeugen wollte: Mit meinem einen Bein würde mich sowieso keiner heiraten. Schwere Arbeit auf dem Feld oder im Haus könnte ich auch nicht verrichten, da wäre es doch besser, wenn ich weiter lernen würde. Es war allerdings gar nicht nötig, meinen Entschluss zu begründen. Meine Mutter seufzte nur, doch dann gab sie mir mit einem knappen Kopfnicken zu verstehen, dass sie einverstanden sei.
Daraufhin besuchte ich in Kaabong die Loiki-Schule. Obwohl ich Pule nicht vergessen hatte, so hatte ich doch bald einen Freund gefunden, der für mich so wichtig wurde, wie es zuvor meine Cousine gewesen war. Jeden Morgen stand Lonya vor dem Haus meiner Eltern, um mich abzuholen und mit mir die drei Kilometer bis zur Schule zu gehen. Das hatte auch einen Grund: Lonya war verliebt in mich. Ich merkte es, wie er mich anschaute. Zudem half er mir Tag für Tag beim Tragen meiner schweren Schultasche aus Rinderhaut. Aus lauter Mitleid wegen meiner Behinderung tat er das gewiss nicht.
Die Zuneigung beruhte auf Gegenseitigkeit. Ich mochte ihn ebenfalls. Er war zwei Jahre älter als ich und sah sehr gut aus: groß, schlank, sehr hellhäutig, mit strahlend weißen Zähnen, schönen Lippen, kleinen schmalen Augen und sauberen Händen. Dank Pule hatte ich langsam meine Schüchternheit abgelegt, dennoch blieb ich ein Mädchen, das nur ein Bein hatte. Das konnte ich nie vergessen. Lonya schien das nicht zu stören. Als es einmal heftig geregnet hatte, begleitete er mich auch von der Schule nach Hause. Normalerweise blieb er nach dem Unterricht noch im Schulhaus, um seine Hausaufgaben zu erledigen, und ich machte mich allein auf den Weg. Jetzt hatte er jedoch Angst, dass ich im vom Regen aufgeweichten Boden mit meiner Prothese ausrutschen könnte. Als ich an einer Stelle ein paar Schritte vor ihm ging, merkte ich, wie er mich von hinten beobachtete. Es schien ihm zu gefallen, was er sah, wie ich hinkte und meinen Po anders bewegte, als die Mädchen in meinem Alter es normalerweise taten. Als wir zu einem Ngapedurbaum gelangten, blieb er plötzlich stehen und legte seine Hände an meinen Körper, und zwar unterhalb meiner Taille. Bei uns bedeutet das: »Ich mag dich und würde gern mit dir schlafen.« In diesem Moment fühlte ich mich wie eine richtige Frau. Anschließend sagte Lonya auch noch: »Bushile, nach Sonnenuntergang werde ich dich besuchen. Bei mir ist das nicht möglich.« Meine Antwort: »Ja, danke.«
In Uganda ist es vollkommen normal, sich für alles zu bedanken – auch für den zu erwartenden Beischlaf, ebenso für den erlebten Sex. Nur: Wie konnte ich Lonya meine Zustimmung geben? Ich war vierzehn Jahre alt und nicht verheiratet. Meine Mutter hatte einmal zu mir gesagt: »Bushile, Sex sollten zwei Menschen genießen. Das tun sie auch, wenn sie sich lieben. Man sollte es auch nicht geheim halten. Doch der erste Mann, mit dem du ins Bett gehst, muss mit dir verheiratet sein und vergiss nicht, dich bei deinem Ehemann für alles zu bedanken, was er für dich getan hat.«
Ich wusste auch nicht, was in mich gefahren war, als ich »Ja, danke« sagte. Meine Eltern und meine anderen Geschwister waren unterwegs, um Verwandte zu besuchen. Einzig Namoe war da, weil sie nicht die ganze Zeit über allein sein wollte. Ihr Mann, Lojik, der Viehdieb, befand sich noch immer hinter Gittern. Lonya hielt sich an die Verabredung.
Das war nicht selbstverständlich, denn in Kaabong war es schon um sieben Uhr abends stockfinster. Danach wagte sich kaum noch jemand aus den Häusern und Hütten, aus Angst vor wilden Tieren. Doch Lonya hatte keine Furcht, zudem hatte er mir versprochen, sehr vorsichtig zu sein. Namoe, mit der ich im selben Raum übernachtete, schlief schon, weil sie seit Sonnenaufgang auf unserem Feld gearbeitet hatte, aus Pflicht ihren Eltern gegenüber. Vielleicht hätte sie sich nicht einfach ihrer Müdigkeit hingegeben, wenn es ihr in den Sinn gekommen wäre, dass sich nach Einbruch der Dunkelheit jemand zu unserem Haus wagen würde, um ihre kleine Schwester zu verführen.
Die Landschaft in diesem nördlichen Teil von Uganda war sehr schön, wenn nicht gerade Dürre herrschte. Als ich mich meinem zweiten Heimatort näherte, ragten aus der Savanne zwischen dornigen Sträuchern und einzelnen Baumgruppen ungewöhnlich geformte Hügel und Felsen heraus. Von Weitem sahen einige davon aus wie Tier- oder Menschenfiguren, denen ich verschiedene Namen gegeben hatte. Mein Lieblingsfelsen hieß Ekone, »mein Freund«. Er erschien mir wie eine große, auf dem Boden liegende Antilope. Nach der Schule war ich oft auf den Felsen geklettert, um von dort aus in die weite Umgebung zu blicken und von meiner Zukunft zu träumen.
Ja, meine Zukunft. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie mein weiteres Leben aussehen sollte. Besser gesagt: Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie ich meinen Eltern erklären sollte, dass ich weiter zur Schule gehen wollte. Als ich dann wieder zu Hause war, trug ich meinen Wunsch ruhig und sachlich vor. Zuvor hatte ich mich mit allen möglichen Argumenten gewappnet, wie ich besonders Tata überzeugen wollte: Mit meinem einen Bein würde mich sowieso keiner heiraten. Schwere Arbeit auf dem Feld oder im Haus könnte ich auch nicht verrichten, da wäre es doch besser, wenn ich weiter lernen würde. Es war allerdings gar nicht nötig, meinen Entschluss zu begründen. Meine Mutter seufzte nur, doch dann gab sie mir mit einem knappen Kopfnicken zu verstehen, dass sie einverstanden sei.
Daraufhin besuchte ich in Kaabong die Loiki-Schule. Obwohl ich Pule nicht vergessen hatte, so hatte ich doch bald einen Freund gefunden, der für mich so wichtig wurde, wie es zuvor meine Cousine gewesen war. Jeden Morgen stand Lonya vor dem Haus meiner Eltern, um mich abzuholen und mit mir die drei Kilometer bis zur Schule zu gehen. Das hatte auch einen Grund: Lonya war verliebt in mich. Ich merkte es, wie er mich anschaute. Zudem half er mir Tag für Tag beim Tragen meiner schweren Schultasche aus Rinderhaut. Aus lauter Mitleid wegen meiner Behinderung tat er das gewiss nicht.
Die Zuneigung beruhte auf Gegenseitigkeit. Ich mochte ihn ebenfalls. Er war zwei Jahre älter als ich und sah sehr gut aus: groß, schlank, sehr hellhäutig, mit strahlend weißen Zähnen, schönen Lippen, kleinen schmalen Augen und sauberen Händen. Dank Pule hatte ich langsam meine Schüchternheit abgelegt, dennoch blieb ich ein Mädchen, das nur ein Bein hatte. Das konnte ich nie vergessen. Lonya schien das nicht zu stören. Als es einmal heftig geregnet hatte, begleitete er mich auch von der Schule nach Hause. Normalerweise blieb er nach dem Unterricht noch im Schulhaus, um seine Hausaufgaben zu erledigen, und ich machte mich allein auf den Weg. Jetzt hatte er jedoch Angst, dass ich im vom Regen aufgeweichten Boden mit meiner Prothese ausrutschen könnte. Als ich an einer Stelle ein paar Schritte vor ihm ging, merkte ich, wie er mich von hinten beobachtete. Es schien ihm zu gefallen, was er sah, wie ich hinkte und meinen Po anders bewegte, als die Mädchen in meinem Alter es normalerweise taten. Als wir zu einem Ngapedurbaum gelangten, blieb er plötzlich stehen und legte seine Hände an meinen Körper, und zwar unterhalb meiner Taille. Bei uns bedeutet das: »Ich mag dich und würde gern mit dir schlafen.« In diesem Moment fühlte ich mich wie eine richtige Frau. Anschließend sagte Lonya auch noch: »Bushile, nach Sonnenuntergang werde ich dich besuchen. Bei mir ist das nicht möglich.« Meine Antwort: »Ja, danke.«
In Uganda ist es vollkommen normal, sich für alles zu bedanken – auch für den zu erwartenden Beischlaf, ebenso für den erlebten Sex. Nur: Wie konnte ich Lonya meine Zustimmung geben? Ich war vierzehn Jahre alt und nicht verheiratet. Meine Mutter hatte einmal zu mir gesagt: »Bushile, Sex sollten zwei Menschen genießen. Das tun sie auch, wenn sie sich lieben. Man sollte es auch nicht geheim halten. Doch der erste Mann, mit dem du ins Bett gehst, muss mit dir verheiratet sein und vergiss nicht, dich bei deinem Ehemann für alles zu bedanken, was er für dich getan hat.«
Ich wusste auch nicht, was in mich gefahren war, als ich »Ja, danke« sagte. Meine Eltern und meine anderen Geschwister waren unterwegs, um Verwandte zu besuchen. Einzig Namoe war da, weil sie nicht die ganze Zeit über allein sein wollte. Ihr Mann, Lojik, der Viehdieb, befand sich noch immer hinter Gittern. Lonya hielt sich an die Verabredung.
Das war nicht selbstverständlich, denn in Kaabong war es schon um sieben Uhr abends stockfinster. Danach wagte sich kaum noch jemand aus den Häusern und Hütten, aus Angst vor wilden Tieren. Doch Lonya hatte keine Furcht, zudem hatte er mir versprochen, sehr vorsichtig zu sein. Namoe, mit der ich im selben Raum übernachtete, schlief schon, weil sie seit Sonnenaufgang auf unserem Feld gearbeitet hatte, aus Pflicht ihren Eltern gegenüber. Vielleicht hätte sie sich nicht einfach ihrer Müdigkeit hingegeben, wenn es ihr in den Sinn gekommen wäre, dass sich nach Einbruch der Dunkelheit jemand zu unserem Haus wagen würde, um ihre kleine Schwester zu verführen.
Leise hüpfte ich zum Fenster, um nach Lonya Ausschau zu halten. Er wohnte nicht weit von uns entfernt. Mein Herz klopfte wie wild. Ich dachte, man müsste jeden einzelnen Schlag sehen können, denn ich hatte nur ein Tuch um meine Hüften gewickelt, oben herum war ich völlig nackt. Mein Herz raste vor Aufregung, weil ich mich unglaublich mutig fand, dass ich Lonya meine Einwilligung gegeben hatte, mich zu lieben. Im Haus meiner Eltern war dies eigentlich genauso wenig möglich wie in der Hütte seiner Eltern. Außerdem konnte ich ein Kind bekommen und das war etwas, was ich vor einer Heirat auf keinen Fall wollte.
Trotz all dieser Bedenken hatte ich ihm keine Abfuhr erteilt. Lonya hatte mir einfach den Kopf verdreht – vielleicht, weil ich nie gedacht hatte, dass ein Junge mit mir schlafen wollte. Was hatte ich mir früher darüber Sorgen gemacht, was ich in einer solchen Situation mit meinem Bein anstellen würde! Nun erschien alles auf einmal leicht. Meine Prothese hatte ich abgelegt, jetzt musste Lonya nur noch kommen. Die Fensteröffnung war kaum größer als mein Kopf. Auf einmal sah ich ihn in der Dunkelheit, die nur von den Feuern der Nachbarn erhellt wurde. Er trug eine Kakihose, mehr nicht. Sein Oberkörper war so nackt wie meiner. Ich beobachtete, wie er sich langsam näherte, als würde er sich mit jedem Schritt genau überlegen, was er mit mir anstellen wollte. Als er vor mir stand, flüsterte er: »Bushile, ich möchte dir was zeigen.« Gleich danach trat er dicht ans Fenster heran, berührte meine Lippen und schob schließlich seine Zunge in meinen Mund hinein.
Die schönsten Gefühle durchströmten mich, nie zuvor war ich geküsst worden. Es war, als würde das Glück an meinem einen Bein hochkrabbeln. Doch mitten in diesem wunderbaren Erleben wachte Namoe auf. Jetzt hatte ich ein Problem, denn ich fürchtete mich davor, dass sie unserer Mutter von dieser Fensterbegegnung erzählen würde. Tata hatte mich schon einmal heftig verprügelt und mich malaya genannt, »Prostituierte«, bloß weil ich mit Loiki gesprochen hatte, einem Jungen aus meiner damaligen Grundschule. Ich hatte das überhaupt nicht verstanden, denn Sex zwischen Mann und Frau wurde in meiner Heimat als etwas ganz Normales angesehen, Sex gehörte zum Leben, auch schon bei Mädchen und Jungen. Meine Eltern aber waren Moslems, sie schienen andere Ansichten zu vertreten.
Verschlafen hob meine Schwester ihren Kopf und als sie mich nicht auf meiner Rinderhautmatte entdeckte, rief sie: »Bushile, was machst du da am Fenster? Du stehst da mit einem Bein, was ist, wenn du das Gleichgewicht verlierst?«
»Namoe, es wird mir nichts passieren«, erwiderte ich, während Lonya sich an die Hauswand presste. »Erinnerst du dich noch, wie ich mit einem Bein auf den Bäumen herumkletterte und mit vielen anderen Mädchen tanzte? Nichts ist mir da passiert, das wird es jetzt auch nicht.«
Meine Schwester ließ nicht locker. »Warum musst du eigentlich deinen Kopf zum Fenster rausstecken, nachher beißt dir eine Hyäne auch noch die Nase ab.«
Das Rendezvous war beendet, den Kuss konnten wir nicht fortsetzen – meine Schwester würde nicht eher ruhen, bis ich vom Fenster weggehüpft war. Lonya flüsterte ich ein paar Worte zu, er lächelte und machte sich danach auf den Rückweg.
»Bushile, ich habe da eben eine Jungenstimme gehört. Du kannst froh sein, wenn ich Tata nichts davon erzähle.« Statt darauf zu antworten, legte ich mich auf meine Matte. Vor dem Einschlafen konnte ich nur an den Kuss denken. Dieses Kribbeln! Was würde erst passieren, wenn Lonya meine Brüste anfassen würde? Würde dieses schöne Gefühl noch größer werden? Oder wenn er …? In dieser Nacht muss ich mit einem Lächeln auf den Lippen eingeschlafen sein.
Am folgenden Tag wurde ich wie üblich von Lonya abgeholt. Neugierig fragte ich: »Woher hast du das gewusst?«
»Was gewusst?«
»Na, das mit deiner Zunge, dass man sie auch in meinen Mund hineinstecken kann?«
»Mpenzi, mein Schatz, ich habe ein Buch von einem Lehrer geklaut. Darin steht, dass die muzungus es so machen, bevor sie mit einer Frau schlafen wollen.« Die muzungus waren auf Suaheli »die Weißen«.
»Wirklich? Das machen die Weißen?«
»Ja, die nennen es kiss, kiss.« Gleichzeitig lachten wir beide laut los, denn es klang so komisch, zumal es in unserer Sprache kein Wort für Zungenküsse gibt. Ein Karamojong-Krieger küsste überhaupt nicht und auch ich hatte nie meinen Vater meine Mutter küssen sehen. Vielleicht tat er es heimlich, aber ich hatte so etwas nicht bei meinen Eltern beobachten können. Vor uns Kindern wurden überhaupt keine Zärtlichkeiten ausgetauscht.
Ein paar Jahre später wohnte ich in der Hauptstadt Kampala bei Onkel Karul, der zu dieser Zeit Idi Amins Informationsminister war und in luxuriösen Verhältnissen lebte, zu denen auch ein Fernsehapparat gehörte. Tata, die mich eines Tages besuchen kam, und ich saßen auf einer breiten Couch, wir sahen uns einen englischen Film an. Es war ein Liebesfilm und unweigerlich kam es in einer Szene zum Kuss. Meine Mutter schrie auf: »Oitakoi, schau mal, Bushile! Der Mann und die Frau beißen sich!«
Die schönsten Gefühle durchströmten mich, nie zuvor war ich geküsst worden. Es war, als würde das Glück an meinem einen Bein hochkrabbeln. Doch mitten in diesem wunderbaren Erleben wachte Namoe auf. Jetzt hatte ich ein Problem, denn ich fürchtete mich davor, dass sie unserer Mutter von dieser Fensterbegegnung erzählen würde. Tata hatte mich schon einmal heftig verprügelt und mich malaya genannt, »Prostituierte«, bloß weil ich mit Loiki gesprochen hatte, einem Jungen aus meiner damaligen Grundschule. Ich hatte das überhaupt nicht verstanden, denn Sex zwischen Mann und Frau wurde in meiner Heimat als etwas ganz Normales angesehen, Sex gehörte zum Leben, auch schon bei Mädchen und Jungen. Meine Eltern aber waren Moslems, sie schienen andere Ansichten zu vertreten.
Verschlafen hob meine Schwester ihren Kopf und als sie mich nicht auf meiner Rinderhautmatte entdeckte, rief sie: »Bushile, was machst du da am Fenster? Du stehst da mit einem Bein, was ist, wenn du das Gleichgewicht verlierst?«
»Namoe, es wird mir nichts passieren«, erwiderte ich, während Lonya sich an die Hauswand presste. »Erinnerst du dich noch, wie ich mit einem Bein auf den Bäumen herumkletterte und mit vielen anderen Mädchen tanzte? Nichts ist mir da passiert, das wird es jetzt auch nicht.«
Meine Schwester ließ nicht locker. »Warum musst du eigentlich deinen Kopf zum Fenster rausstecken, nachher beißt dir eine Hyäne auch noch die Nase ab.«
Das Rendezvous war beendet, den Kuss konnten wir nicht fortsetzen – meine Schwester würde nicht eher ruhen, bis ich vom Fenster weggehüpft war. Lonya flüsterte ich ein paar Worte zu, er lächelte und machte sich danach auf den Rückweg.
»Bushile, ich habe da eben eine Jungenstimme gehört. Du kannst froh sein, wenn ich Tata nichts davon erzähle.« Statt darauf zu antworten, legte ich mich auf meine Matte. Vor dem Einschlafen konnte ich nur an den Kuss denken. Dieses Kribbeln! Was würde erst passieren, wenn Lonya meine Brüste anfassen würde? Würde dieses schöne Gefühl noch größer werden? Oder wenn er …? In dieser Nacht muss ich mit einem Lächeln auf den Lippen eingeschlafen sein.
Am folgenden Tag wurde ich wie üblich von Lonya abgeholt. Neugierig fragte ich: »Woher hast du das gewusst?«
»Was gewusst?«
»Na, das mit deiner Zunge, dass man sie auch in meinen Mund hineinstecken kann?«
»Mpenzi, mein Schatz, ich habe ein Buch von einem Lehrer geklaut. Darin steht, dass die muzungus es so machen, bevor sie mit einer Frau schlafen wollen.« Die muzungus waren auf Suaheli »die Weißen«.
»Wirklich? Das machen die Weißen?«
»Ja, die nennen es kiss, kiss.« Gleichzeitig lachten wir beide laut los, denn es klang so komisch, zumal es in unserer Sprache kein Wort für Zungenküsse gibt. Ein Karamojong-Krieger küsste überhaupt nicht und auch ich hatte nie meinen Vater meine Mutter küssen sehen. Vielleicht tat er es heimlich, aber ich hatte so etwas nicht bei meinen Eltern beobachten können. Vor uns Kindern wurden überhaupt keine Zärtlichkeiten ausgetauscht.
Ein paar Jahre später wohnte ich in der Hauptstadt Kampala bei Onkel Karul, der zu dieser Zeit Idi Amins Informationsminister war und in luxuriösen Verhältnissen lebte, zu denen auch ein Fernsehapparat gehörte. Tata, die mich eines Tages besuchen kam, und ich saßen auf einer breiten Couch, wir sahen uns einen englischen Film an. Es war ein Liebesfilm und unweigerlich kam es in einer Szene zum Kuss. Meine Mutter schrie auf: »Oitakoi, schau mal, Bushile! Der Mann und die Frau beißen sich!«
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